Keine Ruhe auf dem Dach der Welt

von Kai Müller, International Campaign for Tibet, www.savetibet.de

Trotz 70 Jahren Besetzung: Tibeter wehren sich gegen Peking. Die KP antwortet mit noch mehr Repression, Überwachung und Assimilationspolitik – mit Konsequenzen aus Europa muss sie noch nicht rechnen

Tibetische Mönche aus dem Kloster Ganden Jampa Ling in Chamdo müssen eine Propagandadarbietung aus Anlass des 70. Gründungstages der Volksrepublik China zeigen, Oktober 2019. Quelle: staatliche chinesische Medien.

„Wir wollen absolute Loyalität“, was der Parteisekretär der „Autonomen Region Tibet“ Wu Yingjie im Mai dieses Jahres sagte und was nach erwartbarer Rhetorik von Vertretern autoritärer Staaten klingt, ist überaus bemerkenswert. Warum bedarf es nach fast 70 Jahren uneingeschränkter Herrschaft über Tibet einer solchen Mahnung? Ist Tibet nicht kurz nach Gründung der Volksrepublik von Maos Armee, also spätestens 1950 besetzt und mit der Flucht des Dalai Lama 1959 vollständig unterworfen worden? 

Die Worte Wus sind nicht bloße Rhetorik, sondern stehen für ein tief sitzendes Misstrauen Pekings in die Tibeter. Umgekehrt genießt die Herrschaft Pekings bei der Mehrheit der Tibeter offenbar keine Legitimität. Die KP reagiert darauf mit noch mehr Kontrolle. Teil dieser Bemühungen ist die Assimilierung – „Sinisierung“ –  und damit Zerstörung authentischer tibetischer Kultur, mit verheerenden Folgen für jede einzelne Tibeterin und jeden einzelnen Tibeter. 

Überwachung und Kontrolle in Öffentlichkeit und Klöstern

Architekt von Überwachung und Kontrolle in Tibet heute ist KP-Sekretär Chen Quanguo, der 2016 mit der Führung der Autonomen Region Xinjiang betraut wurde, offenbar weil er sich aus Sicht der Partei Verdienste in Tibet erworben hatte. Chen war dort von 2011 bis 2016 allmächtiger Parteisekretär. Seine Markenzeichen in Tibet unter anderem: die Einführung von „bequemen Polizeiwachen“, die in den urbanen Zentren Tibets systematisch in Rastern angeordnet wurden. Bis Ende 2016 wurden mehr als 700 dieser Wachen eingerichtet, die basierend auf einer lückenlosen elektronischen Überwachung ein schnelles Eingreifen erlauben. In seine Zeit in Tibet fällt ebenfalls das Programm „Nütze den Massen“, das bis heute die Entsendung von Zehntausenden von Kadern der KP in die Städte und Dörfer Tibets vorsieht, um die Politik der Kommunistischen Partei zu verbreiten und um sich mit den Menschen, wie es in der Rhetorik der KP heißt, „anzufreunden“. 

Die KP verlangt unterdessen von tibetischen Mönchen und Nonnen in Tibet, die Propaganda der Regierung und der KP zu verbreiten. Im Rahmen der Politik zur „Sinisierung“ der Religion zwingt die Regierung Mönche und Nonnen, sich einer politischen Ausbildung zu unterziehen. Im Rahmen der 2018 in der „Autonomen Region Tibet“ eingeführten „Vier Standards“-Politik müssen Mönche und Nonnen – abgesehen von der Kompetenz in buddhistischen Studien – „politische Verlässlichkeit“, „moralische Integrität, die die Öffentlichkeit beeindrucken kann“ und die Bereitschaft, „in kritischen Momenten eine aktive Rolle zu spielen“, unter Beweis stellen. In der Folge müssen sie sich bereit erklären, jegliche Proteste gegen die staatliche Politik zu verhindern oder zu stoppen. Die Linientreue der Mönche und Nonnen in den buddhistischen Klöstern wird unterdessen überwacht von Parteikadern und Polizei, deren Wachen mitunter in den Klöstern selbst errichtet wurden. Eine umfassende Gesetzgebung zur Religionsausübung garantiert dem Staat überdies weitreichenden Einfluss auf den tibetischen Buddhismus, der damit seine Authentizität zu verlieren droht. 

Sprache und Identität bedroht

Von ebenso zentraler Bedeutung für die Kultur der Tibeter ist die tibetische Sprache. Seit den 1990er Jahren hat es in den Schulen Tibets eine deutliche Verlagerung vom tibetischsprachigen Unterricht hin zum chinesischsprachigen Unterricht gegeben. Die schulischen Lehrpläne unterscheiden sich von der tibetischen Kultur in der Denkweise, im emotionalen Ausdruck und in der Werteorientierung, und sie enthalten auch Elemente, die in der traditionellen Kultur nicht vorhanden sind, was es schwierig macht, Schulwissen zu verstehen und zu lernen. Zu befürchten ist eine Degradierung des Tibetischen auf eine Umgangssprache, die allmählich aus dem öffentlichen Leben verschwindet. Versuche von Aktivisten, wie etwa des Tibeters Tashi Wangchuk, die tibetische Sprache im öffentlichen Leben einzufordern, werden kriminalisiert und verfolgt.

Rigorose Abschottung Tibets

Mönche werden aus dem Kloster Kirti in Ngaba, abgeführt, in Reaktion auf Proteste, die von diesem bedeutenden Kloster in Osttibet 2008 ausgingen. Quelle: ICT.

Auf Jahrzehnte internationaler Aufmerksamkeit für die systematischen Menschenrechtsverletzungen und die politische Situation in Tibet hat Peking mit rigoroser Abschottung reagiert. So haben UNO-Experten, Diplomaten, Parlamentarier, Journalisten und NGOs keinen freien Zugang nach Tibet, so dass die systematischen Menschenrechtsverletzungen Pekings nicht ans Licht kommen. Wenn es doch zu Reisen kommt, dann werden den Besuchern Potemkinsche Dörfer und Tibeter vorgeführt, die nicht frei sprechen können. Dies hat zur Folge, dass etwa nur wenige Einzelfälle verfolgter Tibeter nach außen dringen, wie etwa die folgenden:

  • Der Mönch Choekyi stirbt an Folter nach vierjähriger Haft, ebenso der Mönch Sherab nach Folter in Haft und Verweigerung medizinischer Behandlung.
  • Vierzehn Jahre Haft für den Mönch Drugdra wegen Geburtstagsfeiern für den Dalai Lama, acht weitere Tibeter erhalten ebenfalls hohe Gefängnisstrafen.
  • Sieben Jahre Haft für den Anti-Korruptionsaktivisten Anya Sengdra
  • Fünf Jahre Haft für den Sprachaktivisten Tashi Wangchuk
  • Vier Jahre Haft für den Tibeter Wangchen für Rufe nach Freiheit für den entführten Panchen Lama.

Krisen ohne Konsequenzen

Machtdemonstration der chinesischen Regierung in Lhasa, offenbar um die Bevölkerung einzuschüchtern und von Protestaktionen aus Anlass des tibetischen Volksaufstandes vom März 1959 abzuschrecken, März 2019. Der massive Militäraufmarsch findet jedes Jahr statt. Quelle: staatliche chinesische Medien.

Die chinesische Regierung musste dabei in der Vergangenheit keine spürbaren Konsequenzen für ihre Politik fürchten, nicht von Seiten der Europäer, auch nicht der deutschen Bundesregierung, etwa als die sie die seit 2002 stattfindenden Dialoge mit Vertretern des Dalai Lama nach der Pekinger Olympiade 2008 scheitern ließ. Dabei musste die Intention Pekings jedem spätestens 2010, nach der letzten Dialogrunde, klar sein. Wohlwollend sollte die Weltgemeinschaft blicken auf das glanzvolle Megaereignis der Olympischen Spiele 2008 in Peking. Die andauernde Kritik an China wegen seiner Unterdrückungspolitik in Tibet störte und war der KP ein Dorn im Auge. Die Dialoge mit den Vertretern des Dalai Lama, die sich ernsthaft um eine Lösung der Tibetfrage bemühten, kamen da nur recht, und sie taten einiges, um Kritiker zu beschwichtigen. Nach den Spielen wies Peking die Vorschläge der Tibeter brüsk zurück. Die Gespräche wurden sinnlos. Die Finte Pekings indes hatte keine Folgen. 

Folgenlos blieb für die KP die gewaltsame Niederschlagung der landesweiten, ganz überwiegend friedlichen Proteste in Tibet im Jahre 2008 – bis heute einer der wenigen Großproteste gegen die Politik der Kommunistischen Partei in der Volksrepublik in Dekaden. Während die KP vielerorts mit ihrem Narrativ von den gewaltsamen Übergriffen von Tibetern in Lhasa Erfolg hatte, wurde weniger diskutiert, wie viele Tibeter beim gewaltsamen Vorgehen der Behörden gegen friedliche Demonstrationen im ganzen Land ums Leben gekommen waren. Hinweise über Hunderte, sogar noch mehr Tote, führten nicht dazu, von Peking eine rückhaltlose Aufklärung zu fordern und deren Ausbleiben mit Konsequenzen zu verbinden. 

Zuvor hatte sich die Bundesregierung um eine „Normalisierung“ der Beziehungen mit der KP bemüht, nachdem sie sich mit dem Merkel-Dalai Lama Treffen in 2007 den Groll der Führer in Peking zugezogen hatte. Was der Preis für diese „Normalisierung“ war, welche Zusicherungen die Bundesregierung abseits der damals schon bekannten Formeln (Bekenntnis zur „Ein-China-Politik“, keine Unabhängigkeit Tibets) geben musste, ist bis heute unbekannt. Sicher kann sein, dass sie der Glaubwürdigkeit deutscher Menschenrechtspolitik gegenüber China nachhaltig geschadet haben. Aber nicht nur Deutschland sah sich seinerzeit wegen Besuchen des Dalai Lama Druck ausgesetzt. Doch europäische Solidarität und eine gemeinsame Zurückweisung der Forderungen Pekings gab es nicht. Ob sich die Bundesregierung seinerzeit um diese Solidarität bemüht hat, ist nicht bekannt. Nach den Protesten von 2008 wurde wieder zur Tagesordnung übergegangen.

Auf die Folgenlosigkeit der Proteste von 2008 und die gefühlte Aussichtslosigkeit ihrer Situation reagierten seit 2009 mehr als 150 Tibeterinnen und Tibeter mit drastischen Mitteln: mit ihrer Selbstverbrennung und in vielen Fällen mit ihrem sicheren Tod. Sie artikulierten so ihren Protest gegen die Unterdrückung ihrer Religion und ihrer Kultur und auch gegen die Verunglimpfung des Dalai Lama, dessen Rückkehr nach Tibet viele der Protestierenden forderten. Die Welle der Selbstanzündungen fand ihren Höhepunkt in 2012 und 2013. Dabei zündeten sich nicht nur buddhistische Mönche und Nonnen an, sondern zum Beispiel auch Tibeter aus Nomadengemeinschaften. Peking ging hart gegen deren Familien und Freunde vor. Ganze Dörfer wurden in kollektive Haftung genommen und Menschen aus dem Umfeld der Protestierenden zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Wieder reagierte die KP mit Abschreckung und Repression. Im Westen zeigte man sich vereinzelt erschüttert über diese politisch motivierten Suizide und die darin liegende Verzweiflung. Doch Folgen gab es auch dieses Mal nicht für Peking. 

Übersehen wurde in diesen Jahren vom Westen offenbar, dass die KP in Tibet neue Instrumente totalitärer Herrschaft testete, die sie später anderswo, etwa in Xinjiang perfektioniert hat. Tibet war darüber hinaus offensichtlich auch ein Versuchslabor dafür, wie weit die KP gegenüber dem Westen zu gehen können glaubte. Ihr musste die Schwäche etwa der EU und ihrer Mitgliedsstaaten nur zu augenfällig sein, was sie zu weiteren massiven Regelverletzungen und aggressiven Verhalten ermutigt haben dürfte, sei es in Xinjiang, Hongkong oder im südchinesischen Meer. Der Tibet-Konflikt war damit niemals nur eine Frage der Rechte von rund sechs Millionen Tibetern, sondern hatte Auswirkungen darauf, wie China sowohl seine Innen- wie auch seine Außenpolitik gestaltete. Es ist bedauerlich, dass dieser offensichtliche Zusammenhang ignoriert wurde.

Eine andere Politik – mit Konsequenzen für Peking

Der US-Kongress hat Ende 2018 den „Reciprocal Access to Tibet Act” (RATA) verabschiedet, übrigens überparteilich und ohne Zutun von President Trump. Das Gesetz sieht personenbezogene Sanktionen für KP-Funktionäre vor, die den freien Zugang nach Tibet unterbinden und für die Abschottung des Landes verantwortlich sind. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten sollten angelehnt an die US-amerikanische Gesetzgebung der chinesischen Regierung deutlich machen, dass die Abschottung Tibets Konsequenzen hat. Öffnung bedeutet Transparenz, und aus Transparenz folgt Verantwortlichkeit, welche letztlich Menschenrechtsverletzungen verhindern kann. 

Deutschland sollte sich überdies mit mehr Nachdruck für die kulturellen und religiösen Rechte der Tibeter einsetzen. Dies betrifft den Schutz der tibetischen Sprache, vor allem aber die aktuell enorm wichtige Frage der Nachfolge des Dalai Lama. Ein klares, nicht ein ängstliches Eintreten für die Rechte tibetischer Buddhisten, könnte Peking davon abhalten, extreme Maßnahmen zu ergreifen, wenn der nächste Dalai Lama bestimmt werden muss. Ein hasenfüßiges Auftreten, das wie so oft schon den wohl inszenierten Groll der KP-Führer in Peking antizipiert, hilft nicht weiter. Anders als die Kommunistische Partei uns glauben lassen möchte, ist die Tibetfrage noch nicht beantwortet. Das weiß auch Peking, wenn es seine Herrschaft in Tibet weiterhin nur auf Repression und Überwachung gründen kann. Gerade deswegen muss Deutschland energischer Fürsprecher der Tibeter werden und eine Politik der Konsequenz gegenüber Peking verfolgen. 

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