Widerstand per Laptop: Wie Softwareentwickler und IT-Spezialisten die ukrainische Wirtschaft inmitten eines Krieges am Laufen halten
Trotz vieler Herausforderungen, zu denen auch eine fehlende Stromversorgung oder die ständigen Luftschutzsirenen gehören, hat sich der ukrainische IT-Dienstleistungssektor als bemerkenswert widerstandsfähig erwiesen – sehr zur Erleichterung der digitalen Wirtschaft des Westens.
Eine endlose Reihe überfüllter Autos staute sich Ende Februar dieses Jahres von der polnischen Grenze zurück in die Ukraine. Unzählige Familien, die meisten ohne Väter oder Söhne im Alter zwischen 18 und 60 Jahren – die zu diesem Zeitpunkt durch das Kriegsrecht innerhalb der ukrainischen Grenzen eingeschlossen waren – bahnten sich mühsam, oft frierend und hungernd, ihren Weg in die Sicherheit.
Die ukrainischen Straßen, die in Richtung Polen und in die Slowakei im Westen sowie nach Moldawien im Südwesten führen, waren ebenfalls überfüllt – und zwar nur in einer Richtung: weg von den einmarschierenden russischen Truppen sowie den auf die Flüchtenden fallenden Bomben, Raketen und Granaten.
Russland hatte eine tödliche Invasion des kompletten Landes gestartet. Es war der Überzeugung, dass es die Ukraineschnell und entschlossen in ihre politische Einflusszone zurückführen oder ganz verschlucken könnte.
Russland lag falsch. Die ukrainische Armee und der ukrainische Zivilschutz, bestehend aus Freiwilligen mit sehr unterschiedlichem militärischem Ausbildungsstand, haben der Invasion mit all ihren Möglichkeiten standgehalten. Als in den ersten Tagen und Wochen jedoch große Teile des Landes von Invasionskräften besetzt wurden, deren Ziel es war, Kiew rasch zu stürzen, sah die Lage düster und extrem gefährlich aus.
Innerhalb eines Monats verließen 4 Millionen Flüchtlinge, zumeist Frauen und Kinder, die Ukraine und brachten sich in befreundeten Nachbarländern wie Polen oder in Westeuropa in Sicherheit. Dies entspricht einem Zehntel der Vorkriegsbevölkerung von 41 Millionen.
Gegen den Strom
Anfang März reiste jedoch ein Ukrainer in die entgegengesetzte Richtung und machte sich vom polnischen Krakau auf den Weg zur ukrainischen Grenze. Sein Name war Dmitriy M. (sein Nachname soll nicht genannt werden) und er hatte seine Frau und zwei Kinder in Krakau zurückgelassen, wo die Familie inzwischen lebte.
Dmitriy ist Softwareentwickler und war vor einigen Jahren mit seiner Familie nach Polen gezogen, als er anfing, für das in München ansässige IT-Outsourcing-Unternehmen K&C (Krusche & Company) z u arbeiten. Nun kehrte er allein in seine Heimat zurück – im Gegensatz zu Hunderttausenden seiner ukrainischen Landsleute, die in die entgegengesetzte Richtung flohen.
Ein Großteil der ukrainischen Männer, die aufgrund des Kriegsrechts das Land nicht verlassen durften, um notfalls in die ukrainische Armee einzutreten, akzeptierten ihr Schicksal stoisch und entschlossen. Doch nur wenige, die sich zum Zeitpunkt des russischen Einmarsches mit ihren Familien im Ausland aufhielten, hätten eine freiwillige Rückkehr in Erwägung gezogen.
Doch Dmitriy tat es, getrieben von einem Gefühl der Verpflichtung gegenüber seinen Angehörigen, darunter viele Senioren, die im besetzten Land zurückgeblieben waren. Auch wollte er sich der Verantwortung stellen, den anderen Ukrainern zu helfen, die zur Verteidigung des Landes geblieben waren. Also ging er zurück, weg von seinen kleinen Kindern, seiner Frau und seiner Arbeit, hinein ins Krisengebiet.
Viele Monate später ist Dmitriy immer noch in der Ukraine und kann das Land nicht mehr verlassen. In den ersten Wochen half er Familienmitgliedern, die Hilfe brauchten, sowohl finanziell wie praktisch, und arbeitete aktiv mit den Freiwilligen der Zivilschutztruppe zusammen.
Seitdem der Krieg in eine neue Phase übergegangen ist und sich weitgehend auf die Frontlinien in der östlichen Donbas-Region konzentriert, ist Dmitriy zu seiner regulären Arbeit zurückgekehrt und trägt zur Entwicklung strategisch wichtiger Webanwendungen für ein an der Börse notiertes deutsches Unternehmen bei.
Als ich Mitte Juni mit ihm sprach, sagte er, dass er zu dem Entschluss gekommen war, dass der wichtigste Beitrag, den er zu den Kriegsanstrengungen leisten könnte, darin bestehe, zu seiner normalen Arbeit zurückzukehren, nachdem die erste Phase des Krieges vorüber sei und die russischen Truppen aus vielen Regionen zurückgedrängt worden seien.
Auf diese Weise würde er weiterhin das gute Gehalt eines erfahrenen Softwareentwicklers verdienen, das er sich durch seine berufliche Laufbahn erarbeitet hatte. Außerdem könnte er das Geld, das nach der Versorgung seiner Familie übrig bliebe, für Kriegszwecke spenden.
Dmitriy befindet sich derzeit in einer kleinen Stadt innerhalb der Ukraine, die sich in ausreichender Entfernung von den Kämpfen an der Front befindet und aktuell nicht von russischen Luft- oder Raketenangriffen betroffen ist. Seit Ende April hat er sich wieder an seinen Arbeitsrhythmus als Frontend-Softwareentwickler gewöhnt und arbeitet remote von seiner Mietwohnung aus. Außerhalb der Arbeitszeit tut er weiterhin, was er kann, um seinen Verwandten zu helfen. Dabei ist er sich nicht sicher, wann er seine junge Familie in Krakau wiedersehen wird.
Die Bedeutung der ukrainischen IT-Fachkräfte für die digitale Wirtschaft des Westens – und den Kriegseinsatz
Dmitriy ist bei weitem nicht der einzige ukrainische IT-Fachmann, der remote arbeitet. Im ganzen Land gibt es Hunderttausende von ukrainischen IT-Fachkräften, die Web- und Softwareanwendungen für hauptsächlich westliche Unternehmen und Organisationen entwickeln oder verwalten.
Die Fähigkeiten dieser Mitarbeiter sowie ihre große Zahl sind für die digitale Wirtschaft des Westens absolut unerlässlich. Die Gehälter, die sie erwirtschaften (6000-8000 Euro pro Monat sind für einen erfahrenen Softwareentwickler keine Seltenheit, selbst bei Remote-Arbeit), sowie die von ihnen gezahlten Steuern sind für die ukrainische Kriegswirtschaft unverzichtbar.
Darüber hinaus spenden viele großzügig für Wohltätigkeitsorganisationen, die die Kriegsanstrengungen unterstützen, indem sie Ausrüstung für die Soldaten und die Freiwilligen des Zivilschutzes kaufen, die Russlands gewaltige Kriegsmaschinerie aufzuhalten versuchen. Zudem werden zivile Einrichtungen unterstützt, um den Millionen von Ukrainern zu helfen, die nun nicht mehr in der Lage sind, zu arbeiten und dementsprechend kein regelmäßiges Einkommen wie vor dem Krieg mehr erzielen können.
Nicht alle haben die Möglichkeit, mobil zu arbeiten, sobald ihnen ein ruhiger Raum, ein Laptop und ein Internetanschluss zur Verfügung gestellt werden. Der IT-Sektor der Ukraine, der vor dem Krieg absolut florierte, bietet jedoch diesen Vorteil. Er hat sich bei der Bewältigung der Kriegsrealität auf dem Territorium des Landes als ebenso „agil“ erwiesen wie die Fachkräfte bei der Entwicklung digitaler Produkte, welche nach wie vor einen Motor der lokalen und globalen Wirtschaft darstellen.
Vor dem Einmarsch Russlands verfügte die Ukraine über schätzungsweise 289.000 IT-Fachkräfte und damit über einen der höchsten Bestände an Softwareentwicklern in Europa. Direkt oder indirekt über IT-Outsourcing-Dienstleister sind zahlreiche westeuropäische und nordamerikanische Unternehmen auf Softwareentwickler und andere IT-Experten aus der Ukraine angewiesen.
Branchenberichten zufolge sind 75 % der Fachkräfte Männer, von denen sich die große Mehrheit noch in der Ukraine aufhält. Einige von ihnen sind in den aktiven Militärdienst eingetreten, entweder in die reguläre Armee oder in die zivilen territorialen Verteidigungsdienste, die meisten arbeiten jedoch normal weiter. Dabei sind einige näher an den Kriegsschauplätzen als andere.
IT-Dienstleistungen – eine Wachstumsindustrie
Laut dem Bericht „Tech Ukraine 2021“ führte das Land im Jahr vor der Invasion IT-Dienstleistungen im Wert von schätzungsweise 7 Milliarden Dollar aus. Das entspricht etwa dem Doppelten der Einnahmen aus dem Gasübertragungsnetz, das durch das Land verläuft und russisches Gas in den europäischen Raum transportiert. Die Exporte von IT-Dienstleistungen waren außerdem zweimal so hoch wie der Gesamtwert des ukrainischen Maschinenbausektors und entsprachen einem Viertel der Agrarexporte, des größten Wirtschaftszweigs des Landes.
Doch während der Export von Nahrungsmitteln und Rohstoffen im Jahr 2020 um 8,9 % zunahm, lag das Wachstum der Exporte von IT-Dienstleistungen bereits bei 24,7 %. Der Wert der ukrainischen IT-Exporte hatte sich in den drei Jahren bis 2020 verdoppelt. Öffentliche Informationsquellen schätzen das Wachstum der ukrainischen IT-Dienstleistungsexporte auf 35 % allein in den ersten drei Quartalen des Jahres 2021.
Der Export von IT-Dienstleistungen trug in den letzten Jahren entscheidend zum allgemeinen Wirtschaftswachstum der Ukraine bei. Das schnelle Wachstum hat zu einer verstärkten Zusammenarbeit zwischen westlichen Unternehmen und ukrainischen IT-Fachkräften geführt, wobei viele dieser Unternehmen dringend auf diese Fachkräfte angewiesen sind.
In einer vom Krieg zerrütteten Wirtschaft, in der viele Sektoren, insbesondere die Landwirtschaft, schwer geschädigt sind (die Weltbank prognostiziert einen Rückgang der ukrainischen Wirtschaft um 45 % in diesem Jahr), ist das Fortbestehen des IT-Dienstleistungssektors außerdem absolut essentiell –sowohl für die Steuereinnahmen des Landes als auch für die lokale Wirtschaft. Die Gehälter der ukrainischen Softwareentwickler sichern heute oft den Lebensunterhalt ganzer Familien und bringen viel Geld in die Kassen der lokalen Unternehmen.
Im ukrainischen Berggebiet der Karpaten beispielsweise arbeiten viele IT-Fachkräfte von zu Hause aus, so Ivan Nevmerzhytskyi, ein weiterer IT-Fachmann von K&C, der in Dnipro wohnt und von dort aus arbeitet. Sie generieren ein wertvolles Einkommen für Hotels, Pensionen und andere lokale Unternehmen. Ähnliches gilt für IT-Fachkräfte, die in Städten wie Ivans Heimatstadt Dnipro oder anderen Städten leben.
Arbeitsplatz Sumy: IT Dienstleistungen in schwierigen Kriegszeiten
Ivans K&C-Kollege Sergei Bondarenko, ein leitender QS-Techniker, der für ein in London ansässiges FTSE 100-Unternehmen an digitalen Projekten arbeitet, befand sich zu Beginn des russischen Angriffs in unmittelbarer Nähe der Front. Er arbeitet in Sumy, einer mittelgroßen Stadt mit einer Vorkriegsbevölkerung von etwa 260.000 Einwohnern.
Nur 50 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, im Nordosten der Ukraine gelegen, wurde Sumy am ersten Tag des Krieges angegriffen und zeitweise besetzt – bis zum 8. April, an dem die russischen Truppen aus der Stadt und der Region zurückgedrängt wurden. Seitdem konnten die Truppen im Grenzgebiet zurückgehalten werden, wobei sich die meisten aktiven Kämpfe derzeit auf die weiter südlich gelegene Region Donbas konzentrieren.
Sergej sowie seine Frau entschieden sich dafür, in Sumy zu bleiben, statt aus dem gefährlichen Grenzgebiet zu Russland nach Westen zu fahren, zumal sie ein Baby haben, das zum Zeitpunkt des Einmarsches erst wenige Wochen alt war. Irgendwann machten sie sich dann doch auf den Weg, kehrten aber um, als klar wurde, dass sie in einem 15-stündigen Stau außerhalb der Stadt feststecken würden. Sie befürchteten, dass sie bei Angriffen leichte Ziele werden könnten.
Da Sumy nicht mit Strom versorgt wurde, konnte Sergej nach der Invasion etwa einen Monat lang nicht arbeiten. In dieser Zeit meldete er sich freiwillig zu den zivilen Streitkräften und erledigte, was immer von ihm verlangt wurde. Außerdem brachten er und seine Freunde regelmäßig Lebensmittel und andere Hilfsgüter wie Zigaretten zu den Soldaten an die Front, welche nur eine halbe Autostunde entfernt war.
Seit der Rückeroberung der Stadt sowie der Region durch die ukrainischen Streitkräfte und der Wiederherstellung der Stromversorgung geht Sergej wieder seiner regulären Arbeit nach. Er erklärt, dass ihm die achtstündige Arbeitszeit dabei hilft, sich vom Krieg abzulenken, sich um sein kleines Kind zu kümmern und Spenden für wohltätige Zwecke zu tätigen.
Er begrüßt die Solidarität und Flexibilität, welche die westlichen Arbeitgeber den ukrainischen IT-Fachleuten entgegenbringen, beispielsweise indem sie ihnen während der Zeit zu Kriegsbeginn, in der sie nicht arbeiten konnten, ihr Gehalt weitergezahlt haben. Außerdem erlauben sie inzwischen flexible Arbeitszeiten, die den Luftschutzsirenen Rechnung tragen (auf die Sergey nun nicht mehr unbedingt mit dem Gang in den Luftschutzkeller reagiert, sondern bei geringer Gefahr manchmal auch in der Wohnung im zweiten Stockwerk bleibt).
Sergej hat sich inzwischen so sehr an das Geräusch von Granaten gewöhnt, dass er oft nur erleichtert lächelt, wenn er während Spaziergängen mit seinem Hund Explosionen hört. Er kann jetzt sehr gut einschätzen, ob sich die Explosionen in einer sicheren Entfernung befinden. Diese Art von Stoizismus hat zusammen mit der anhaltenden Unterstützung durch Arbeitgeber aus Westeuropa und anderen Ländern dafür gesorgt, dass die ukrainischen Exporte von IT-Dienstleistungen weiterhin stabil bleiben.
Ukrainische IT-Spezialisten wie Dmitriy M., Ivan und Sergey waren bereits vor dem Krieg sehr wichtig für die lokale Wirtschaft. Heute sind sie absolut existenziell. Ohne ihr Einkommen, das sie oft großzügig mit Verwandten teilen, die unter den derzeitigen Bedingungen keine alternativen Einkommensquellen haben, wäre die bereits schwer angeschlagene ukrainische Wirtschaft in einer noch schlechteren Lage.
Westliche Unternehmen, die auf ihre Expertise angewiesen sind, hätten zudem große Schwierigkeiten, die Lücke auf dem internationalen Arbeitsmarkt für IT-Fachkräfte zu schließen, da dort ohnehin ein großer Personalmangel herrscht.
Weitere Informationen unter: kruschecompany.com/de
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