Ich habe keinen Psychiater mehr

Von Jorge Angel Perez* 

Mein Fernseher steht im Esszimmer. Ich hoffe, der Leser sieht in diesem Umstand nicht nur ein Zeichen von Seichtheit. Ich erwähne dieses kleine Detail, weil ich dank des Standorts des Apparats die Fernsehnachrichten mit „meinem Abendessen“ verbinden kann. Ich setze ganz bewusst Anführungszeichen, denn das „Abendessen“ erweckt jeden Tag den Anschein, dass es mein letztes sein könnte. Es ist so karg, dass der Hungertod jeden Moment eintreten könnte, obwohl in meinem Fernseher ständig über die vielen Erfolge und Errungenschaften der kubanischen Landwirtschaft und Viehzucht gesprochen wird…

Auch mein Mittagessen findet fast immer zur Sendezeit der nationalen Nachrichtensendung statt. Abgesehen vom Wetterbericht interessieret mich diese Propagandashow herzlich wenig. Aber auch der Wetterbericht ist im tropischen Kuba meistens recht eintönig.  Der Abwasch dagegen kann mit jeder x-beliebigen Sendung zusammenfallen, die nach den Nachrichten gesendet wird. Zu meinem Glück kann ich den Fernseher auch vom Spülbecken aus sehen. So kam es, dass ich, halb spülend, halb fernsehend, die Sendung „Todo con Tony“ (Alles mit Tony) entdeckte, eine Sendung, in der dieser Tony, der mit Nachnamen Arroyo heißt, seinem Gast Fragen stellte.

Bis jetzt wäre an dieser Sendung und diesen Zeilen nichts Besonderes, wenn nicht meine Psychiaterin dort interviewt worden wäre. Auf dem Bildschirm war die Ärztin zu sehen, die versucht hat, die Depressionen zu bekämpfen, die mich plagen. Die Psychiaterin, die sich bemüht hat, mein Kurzzeitgedächtnis wiederherzustellen. Jenes Gedächtnis, das bei mir immer mehr verblasst und das Leben schwieriger, ja sogar erschreckend und verzweifelt macht.

Ich leide sehr unter dem Verlust meines Kurzzeitgedächtnisses. Noch schlimmer aber ist, dass es äußerst schwierig ist, die von meiner Psychiaterin empfohlenen Medikamente zu finden. Meine Psychiaterin, die Frau Doktor Rosario sprach im Fernsehen über psychische Erkrankungen und dessen Behandlungen, während ich darüber nachdachte, wie schwierig es ist, an Sertralin oder Alprazolam zu kommen.

Sie sprach und ich dachte über meine Medikamente nach, über den Mangel an meinen Medikamenten. Sie sprach über psychische Krankheiten und ich dachte an meine Freunde im Ausland, die dafür sorgen, dass mir die Medikamente nicht ausgehen. Sie sprach im Fernsehen und ich war sogar stolz auf meine Psychiaterin. Ich war sogar so begeistert, sie im Fernsehen zu entdecken, dass ich annahm, dass sie, wenn sie über ihre Patienten sprach, mich und meine Beschwerden meinte. Daran dachte ich, als ich sie anrief, um einen Termin zu vereinbaren. Aber Niemand ging es Telefon, ich hörte nur immer wieder das Tuten in der Leitung.

Später erfuhr ich, dass die Ärztin meine Anrufe nicht mehr entgegennahm, zumindest nicht unter dieser Nummer in Havanna. Meine Psychiaterin war nicht in Havanna, und auch nicht auf Kuba. Das kubanische Fernsehen ist so lahm, dass wir ein Interview mit jemandem sehen können, der das Land vor sechs Monaten verlassen hat oder gestorben ist. Rosario, meine Psychiaterin, war nicht mehr auf Kuba, als sie im kubanischen Fernsehen auftrat. Sie hatte einige Monate zuvor ihr Haus verkauft und das Land verlassen. Rosario ist gegangen, wie Laura. Rosario ist nicht mehr da, zumindest nicht in ihrem üblichen Haus, nicht im Krankenhaus und nicht in ihrer Praxis. Rosario lebt jetzt in New York.

Die Psychiaterin, die entschlossen war, meine geistige Gesundheit und das Kurzzeitgedächtnis, das ich verloren habe, wiederherzustellen, gehört heute zu den Tausenden von Kubanern, die das Land in den letzten Monaten verlassen haben. Wahrscheinlich kann sie ihren Beruf in New York nicht mehr ausüben. Wahrscheinlich empfindet Rosario Nostalgie, wenn sie sich an Havanna, ihren weißen Kittel und ihre Patienten erinnert. Rosario ist weg und ich habe keinen Psychiater mehr.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie ihr psychiatrisches Können nicht mehr unter Beweis stellen kann. Sicher ist aber, dass sie, wenn sie etwas vermisst und Kummer verspürt, sich damit trösten kann, von einem hohen Fenster aus auf New York zu schauen, von wo aus sie die Stadt besingen könnte, wie es einst Frank Sinatra tat.

 “Start spreading the news/ I’m leaving today/ I want to be part of it/ New York, New York“. So könnte Rosario singen und aus der Ferne an Havanna denken. Sie könnte auf New York schauen und an Havanna denken, an das viele Elend in dieser Stadt, im ganzen Land. Vielleicht denkt Rosario als Psychiaterin auch an die Kranken, die zurückgeblieben sind.  An die Patienten in der psychiatrischen Abteilung der „Klinik des 26 Julis“. An die vielen psychisch kranken Menschen und vielleicht auch an mich, und fragt sich, wie es meinem Gedächtnis und meinem Kopf geht.

Rosario ging, wie viele andere auch: Psychiater, Chirurgen, Ingenieure, Lehrer, Prostituierte und Stricher, Schauspieler und Sänger, Diebe, Polizisten, Ex-Sträflinge, Katholiken, Protestanten, Homosexuelle und Homophobe. Schwarze und Weiße gingen, aber auch Rote und Grüne. Es sind Gute und Böse gegangen und viele mehr. So viele sind gegangen, dass ich die Freude der Kommunisten spüre, die sich derer entledigt haben, die ihnen zu unbequem waren.

Rosario ist gegangen, wie Laura auch.  Andere werden ihnen folgen; viele andere sind dabei, irgendwohin zu gehen, nur weg aus Kuba. Viele werden am nächsten 11. Juli (11. Juli 2021, Tag der größten Proteste seit 1959, Anmerkung des Übersetzers) oder an einem der kommenden 27. November (am 27.11. 2020, zogen hunderte Künstler vor das Kultusministerium und forderten ein Ende der Zensur, Anmerkung des Übersetzers) fehlen. Viele von denen, die am Tag der Arbeit für das Regime demonstriert haben, sind gegangen. Diejenigen, die den Angriff auf die Moncada, die Landung der Granma und die CDR (Komitees zur Verteidigung der Revolution, kontrollieren die Nachbarn, ähnlich wie  Blockwarte zur NS-Zeit, Anmerkung des Übersetzers) gefeiert haben, werden ebenfalls gehen. Werden die Wähler der Abgeordneten gehen, sogar einige Abgeordnete, werden der Son, der Tabak und der Rum gehen, werden die Generäle und Ärzte gehen?

Werden wir ihnen das Land überlassen? Werde ich allein gelassen? Werden die kubanischen Ärzte in der Türkei bleiben? Werden die Schauspieler bleiben, damit die 2. Staffel der Telenovela gedreht werden kann? Werden die Abgeordneten bleiben oder die Söhne der Mächtigen bleiben? Werden viele Elián Gonzales zurückkommen? Wer wird bleiben? Wie viele werden bleiben? Wer wird noch gehen? Werde ich alleine zurückbleiben? Ich frage mich, wie Kuba von oben aussehen wird? Ob es noch Lichter auf der Insel geben wird? Oder macht der Letzte hier dann das Licht aus?

Wird es keine Psychiater mehr geben? Wird es keinen Bedarf an Psychiatern geben? Was wird Kuba dann sein? Werden wir nicht sein, werden wir das Nichtsein sein? Werden wir das Anderssein sein? Wird aus jedem Kommunisten ein Gusano (Wurm, Schimpfwort der Diktatur für Andersdenkende, Anmerkung des Übersetzers)? Sind wir wirklich nicht in der Lage, diese „geliebte Gewohnheit“ aufzugeben, einfach die Türen zu schließen, das Licht auszuschalten und zu gehen, einfach abzuhauen? Denn soviel ist klar: die vielen Fluchten, machen die Hölle in der wir leben, die Castro-Hölle, nur noch langlebiger. Wenn die Unzufriedenen alle Weg sind, bleiben nur noch die Ja-sager zurück.

Übersetzung von Fernando Rivas

*Der oppositionelle kubanische Schriftsteller Jorge Angel Perez ist aufgrund von Depressionen in psychiatrischer Behandlung. Vor kurzem verlor er seine Psychiaterin, die sich aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Lage wie zigtausende Kubaner entschlossen hat die Insel zu verlassen. In diesem Essay formuliert er seine Gedanken zur massiven Auswanderungswelle die Kuba seit beinahe 2 Jahren fest im Griff hat.

Categories:

Tags:

No responses yet

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert