1553

Von Alex Fischer

In den letzten Tagen geisterten verschiedene Zahlen durch die öffentliche Diskussion um die obdachlosen Flüchtlinge von Moria: 100 bis 150, 400, zuletzt 1553. Immer ging es darum, wie viele der armen Seelen aus dieser Schande von einem Lager wir in Deutschland aufnehmen könnten, was natürlich nichts anderes bedeutete, als: aufnehmen wollten.

Nun also 1553, nicht nur aus Moria, sondern von insgesamt fünf Inseln in der Ägäis. Das ist besser als 100 bis 150 oder als 400, aber für ein 83-Millionen-Volk und angesichts von – allein um Moria herum – 13.000 Menschen ohne echtes Obdach im anbrechenden Herbst immer noch weit entfernt vom allem, was das christliche Gebot der Nächstenliebe uns nahelegt. Entgegen landläufiger Meinung frieren übrigens alle Menschen nachts draußen im Herbst, nicht nur Frauen und unbegleitete Minderjährige. Und ich persönlich kenne auch niemanden, der es überhaupt physisch oder psychisch aushalten würde, jahrelang unter den menschenunwürdigen Bedingungen eines dieser Lager zu leben. Sie vielleicht?

Das Spannende an Zahlen ist, dass sie überall Parallelen eröffnen. 1553 … Im Jahr 1553 landete das erste englische Schiff im damals noch portugiesisch dominierten Westafrika an. Ein gewisser Captain Windham führte das Kommando. Aus diesem und anderen eher sporadischen Versuchen Einzelner erwuchs bald ein komplexes Gefüge interkontinentaler Handelsbeziehungen. Gehandelt wurden Waren aller Art, und unter „Ware“ verstand man damals vielfach auch Menschen.

Der transatlantische Sklavenhandel, der bereits 1510 begonnen hatte und spätestens ab dem 17. Jahrhundert richtig zu boomen begann, führte nicht nur zu millionenfachem, unvorstellbarem Leid, sondern über dieses millionenfache Leid auch zu einem unfassbaren Aderlass für den afrikanischen Kontinent. Schuld an diesem Aderlass waren wir Europäer – da kann es keine zwei Meinungen geben, ganz gleich, wen wir in Afrika dafür bezahlt haben, uns die Sklaven zu beschaffen. Wir waren die treibenden Kräfte, und wir waren die großen Profiteure. Ein beträchtlicher Teil unseres historisch gewachsenen Wohlstands gründet auf dem Sklavenhandel, und mehr noch: Das auf diese Weise zwischen Europa und Afrika entstandene Gefälle zum einen in ökonomischer Hinsicht, zum anderen aber auch in der geistigen Haltung vieler Europäer gegenüber unseren afrikanischen Mitmenschen ist nie wieder verschwunden. In unserer turboglobalisierten Welt tritt es sogar teilweise deutlicher zutage als jemals zuvor.  

Ich weiß nicht, wie viele der 1553 Menschen, die unsere Bundesregierung Stand heute nach Deutschland holen möchte, Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien sind, wie viele aus anderen asiatischen Ländern stammen, und wie viele aus afrikanischen Staaten. Ich weiß nur eines: Wir tragen Verantwortung für viele dieser Schicksale. Richtig: tragen, nicht nur: müssen übernehmen. Wir tragen diese Verantwortung bereits, und zwar seit Jahrhunderten. Denn wir Europäer haben nicht zuvörderst das Licht der Aufklärung in die verschiedensten Gegenden dieser Welt getragen, was viele von uns immer noch gerne behaupten. Zuvörderst haben wir gewütet, uns bereichert und anderen Menschen ihre Zukunft zerstört. Das Licht dieser Erkenntnis strahlt so hell, dass es jeden noch so dichten Vorhang, den wir an unseren Außengrenzen hochziehen können, mühelos durchdringt. Und alles, was wir heute tun können, um unserer Verantwortung glaubwürdig gerecht zu werden – das müssen wir tun!

So viel zu der Zahl 1553 und zu allen anderen Zahlen, über die wir in den nächsten Jahren noch streiten werden.

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