Afghanistan-Abzug:
Der Ball hüpft weiter
Von Alex Fischer
In dem Film „Der Krieg des Charlie Wilson“ mit Tom Hanks gibt es gegen Ende eine verstörende Szene. Die Titelfigur versucht, denselben Politikern, die zuvor Milliarden von US-Dollar ausgegeben haben, um die Sowjets aus Afghanistan hinaus zu bomben, eine einzige Million US-Dollar zu entlocken für den Aufbau von Schulen in dem Land. Vergeblich. „Das ist immer das Gleiche“, sagt Wilson schließlich verzweifelt: „Wir marschieren immer irgendwo hin, mit unseren Idealen, und verändern die Welt – und verschwinden wieder. Immer verschwinden wir. Aber der Ball, der hüpft weiter.“
Der Film spielt in den 1980er-Jahren, doch scheint sich die Geschichte im Frühjahr 2021 zu wiederholen. Seit dem 14. April ist der Abzug der NATO aus Afghanistan beschlossene Sache. Am 1. Mai soll es losgehen, und es soll schnell gehen. Ganz egal, ob Trump oder Biden: Das US-amerikanische Interesse an Afghanistan ist dahin. 9/11 liegt inzwischen weit hinter dem Horizont, oder doch zumindest die Idee, dass der Terror damals etwas zu tun hatte mit einem morschen Staat in Zentralasien. Der Staat dort ist immer noch morsch, aber Bin Laden ist tot, während Putin, die chinesische Staatsführung, Kim Jong-un, Assad und andere leben und in großem Umfang militärische und nachrichtendienstliche Kräfte binden. Wen interessiert da noch Afghanistan? Und natürlich: Ziehen die USA ab, dann ziehen wir mit. Zusammen rein, zusammen raus, lautet das deutsche Credo. Vermutlich ist das nicht einmal unvernünftig, angesichts der Kräfteverhältnisse. Und überhaupt: 59 deutsche Soldaten sind in den letzten 20 Jahren in Afghanistan ums Leben gekommen, weitaus mehr als in jedem anderen Auslandseinsatz der Bundeswehr. Wie viele sollen denn noch sterben! Irgendwann ist Schluss. Irgendwie klingt das plausibel.
Aber der Ball, der hüpft weiter. Und so bin ich, während ich diese Zeilen schreibe, trotzdem tieftraurig. Ja, es ist ein großes Glück für jeden deutschen Soldaten und jede Soldatin, die nun nach Hause fahren dürfen zu den Menschen, die sie lieben! Doch was wird aus denen, die sie zurücklassen? Einst durchquerten Afghanistan Scharen von Hippies auf der Suche nach dem Paradies. Heute ist dasselbe Land für viele Menschen die Hölle. Die Menschenrechtslage vielerorts eine Katastrophe, die Rechte von Frauen und Mädchen erheblich eingeschränkt, die Arbeit – und das Leben! – von Menschenrechtlern, Journalisten, Aktivisten und vielen anderen massiv bedroht. Und vermutlich wird all das ohne die NATO-Präsenz vor Ort nicht besser werden, sondern noch viel schlimmer. Puh.
Es ist nichts Neues, dass wir hier im bequemen Westen eine Fähigkeit ganz besonders gut ausgebildet haben: das selektive Hin- und Weggucken. Und es ist zu befürchten, dass wir das nun am Beispiel Afghanistans wieder einmal gekonnt vorführen werden. Wen von uns hat denn der Taliban-Terror in Afghanistan vor dem Herbst 2001 interessiert? Eben. Und wen von uns wird er nach dem Herbst 2021 noch interessieren? Tja. „Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland“, hat Peter Struck 2002 gesagt, „wird auch am Hindukusch verteidigt.“ Das klang einleuchtend, da konnten viele mitziehen. Doch was, wenn es, zumindest in nächster Zeit, nur noch um die Sicherheit afghanischer Frauen, Mädchen, Kinder, Männer gehen wird? Wer von uns wird da noch mitziehen? Wie werden wir in den nächsten Jahren und Jahrzehnten mit Afghanistan und seinen Menschen umgehen? Wie solidarisch werden wir sein, wie engagiert, wie hilfreich? Das Ganze wird ein echter Charaktertest werden, und wir können nur hoffen, dass wir ihn bestehen.
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