Waren die Berlinale-Gäste dumm oder antisemitisch?
Von Ansgar Graw.
Artikel zuerst erschienen 28. Februar 2024 in The European
Nie wieder oder so ähnlich: Michael Wolffsohns scharfsinniges Buch über alten und neuen Antisemitismus beleuchtet, welche unterschiedlichen Lehren Deutsche und Juden aus dem Holocaust zogen.
Wer an der neuen deutschen Leidenschaft der Dauerempörung über Israel verzweifelt bei gleichzeitiger Versicherung, natürlich kein Antisemit zu sein, der findet Trost bei Michael Wolffsohn. Der Münchner Historiker und Nahostexperte ist in der Befassung mit dem seit einem Dreivierteljahrhundert explosivsten Flecken der Erde die Stimme der ordnenden Vernunft. Wenn etwa dieselben prominenten Gäste der Abschlussgala der Berlinale, die an jenem Abend in den kollektiven Beifall für kontrafaktische „Genozid“-Attacken gegen Israel einstimmten, am nächsten Tag versicherten, wie entsetzt sie über viele der Äußerungen auf der Bühne gewesen seien, dann vermag der scharfe Analytiker Wolffsohn zwischen echtem Antisemitismus und mitlaufender Dummheit zu differenzieren.
„Dass die Preisgala der Berlinale das Leid der Gaza-Palästinenser thematisiert, ist zwar ungewöhnlich, aber weder unmoralisch noch pietätslos“, kommentierte Wolffsohn im DeutschlandRadio. „Es ist verständlich, selbst einen Steinwurf vom Holocaust-Mahnmal entfernt.“ Und der 1947 in Palästina geborene Sohn einer vor dem Nationalsozialismus geflüchteten jüdischen Kaufmannsfamilie schloss den richtigen Hinweis an, das Palästinenserleiden könne „unverzüglich aufhören, wenn die Hamas kapituliert und die israelischen Geiseln freilässt“.
Den eifrigen Applaus für die Forderung des israelisch-palästinischen Preisträgerduos Yuval Abraham und Basel Adra, keine Waffen mehr an Israel zu liefern, kommentierte Wolffsohn so: „Das deutsche Publikum jubelte – Herr vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Immerhin sei Deutschland angesichts von aus Israel gelieferten Raketen und Drohnen „mehr von Israels Waffen abhängig als Israel von deutschen“.
Wolffsohn, dessen Familie 1954 in die deutsche Heimat zurückkehrte, um hier unsägliche Zumutungen bei dem Versuch des Rückerhalts des „arisierten“ Familienbesitzes zu erfahren, hat soeben ein bemerkenswertes Buch vorgelegt. „Nie wieder? Schon wieder!“, lautet der Titel, und die Satzzeichen entlarven das Phrasenhafte in der deutschen Debatte über die Situation der Juden in Deutschland. „Nie wieder“ dürften sie um Gesundheit, Leben und Wohlergehen fürchten müssen, wird seit Ende des Zweiten Weltkriegs mit anfänglich wenig Emphase und inzwischen wohltönendem Timbre versichert, stets mit Ausrufezeichen. Dass dieses Versprechen zumindest in der Nähe der Realität angesiedelt sei, mag man auf der Besucherempore des Bundestages oder in der Kuscheligkeit von Kirchentagen glauben, aber nach allem, was man so hört, wohl nicht mehr dann, wenn man mit einer Kippa durch Berlin-Neukölln oder viele andere Stadtteile in Deutschland gegangen wäre.
Neonazis treiben hierzulande weiter ihr Unwesen, und für jemanden, dessen Familie bewusst zurückkehrte ins demokratische Deutschland und hier vor Gerichten Demütigungen erlebte von einem juristischen Personal, das zum großen Teil schon während des Nationalsozialismus (Un-)recht pflegte, muss dies schmerzlich sein. Aber Wolffsohn listet die Quellen der Gefahren, die zum „Schon wieder“ (und hier setzt er sein Ausrufezeichen) nüchtern so auf, wie es der Untertitel signalisiert: „Alter und neuer Antisemitismus.“
Wolffsohn benennt die Gefahr von Rechtsaußen, denn natürlich gebe es „die neuen Nazis in den verschiedensten Ausprägungen“ und sie seien „für andere Juden und mich mordsgefährlich“. Doch er setzt sie in eine Relation, die dem politisch-korrekten Weltbild in die Quere kommt: „Die Neualtrechte ist die drittgrößte Gefahr für die Juden. Die zweitgrößte Gefahrenquelle für Diaspora- und Israeljuden sind die Linken und Linksliberalen, vor allem die vereinigten ‚Postkolonialisten‘ aller Länder. Für sie ist die sechsmillionenfache Judenvernichtung eine unbedeutende Auseinandersetzung innerhalb der ‚weißen Rasse‘. Das Megaverbrechen der Menschheitsgeschichte ist für sie der Kolonialismus des weißen Mannes, und Israel erscheint als die Speerspitze des Kolonialismus. (…) Die größte Gefahr droht heute und in absehbarer Zukunft den Juden der Diaspora ebenso wie erst recht in Israel aus der in- und ausländischen islamischen Welt. ”
Linker Antisemitismus? Er entwickelte sich keineswegs erst in den vergangenen Wochen durch den Frust über die hohen Opferzahlen in der palästinensischen Bevölkerung Gazas während des israelischen Vorgehens gegen die Hamas. Der Autor erinnert vielmehr: „Ein geplanter und gottlob missglückter, von den meisten längst vergessener deutsch-palästinensischer Terrorakt führt zum 9. November 1969. Damals versuchten die ‚Tupamaros Westberlin‘ ein Bombenattentat auf Heinz Galinski, den damaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.“ Es handelte sich, diese ergänzenden Informationen seien dem Rezensenten gestattet, um einen Anschlag auf einen Festakt mit gut 250 Besuchern im Jüdischen Gemeindehaus, darunter viele Überlebende des Holocaust. Unter einem Mantel in der Garderobe tickte eine Brandbombe, die nur aufgrund eines technischen Fehlers nicht zündete. Damals wurde zunächst ein rechtsextremistisches Motiv vermutet, bis die Ermittlungen ergaben, dass Linksterroristen um Dieter Kunzelmann, ausgebildet von der Fatah im Guerillakampf, „Zionisten“ umzubringen versucht hatten. Diejenigen Deutschen, die davon heute noch wissen, dürften sich im niedrigen Promillebereich bewegen. Und die Grünen mögen verdrängt haben, dass ihr einstiger Berliner Landesverband, die Alternative Liste, eben jenen Judenjäger Kunzelmann in den 1980er Jahren als ihren Abgeordneten ins Berliner Abgeordnetenhaus schickte. Wer linksaußen Bomben bastelte, durfte auf mehr Nachsicht hoffen als wer heutzutage in Potsdam rechtsaußen über Remigration schwafelt.
Zurück zum Buch von Wolffsohn. Er, der in Israel Wehrdienst geleistet hat und nach dem Studium in Berlin, Tel Aviv und New York bis 2012 als Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München lehrte, schreibt, offenkundig mit Blick auf das aktuelle Sterben und Töten in Gaza: „Wer über die Gewaltanwendung bei Krieg, Guerilla (Kleinkrieg) und Terror spricht, und urteilt, sollte erst die Gesetze dieser Gewalt kennen und erst dann urteilen oder verurteilen. Der Guerillero bzw. Partisan missbraucht die eigene Zivilbevölkerung überall und immer als Kanonenfutter. Der Terrorist kennt keine Scheu, auch unbeteiligte Zivilisten zu ermorden.” Und er erinnert daran, dass wir das Kriegsende 1945 heute als „Befreiung“ verklären, während „die Alliierten im Zweiten Weltkrieg Millionen Deutsche und ihre Helfer töteten, um das deutsche Massenmorden zu beenden“. Dieses „Töten, um das Morden zu beenden“ wird im Rückblick gefeiert. Und derzeit versucht Israel, Hamas-Terroristen zu töten, um nicht erneut jenes Morden zuzulassen, das mit dem 7. Oktober 2023 in Gestalt des Terrorangriffs der Hamas aus dem Gaza-Streifen samt der Ermordung von mindestens 1139 Menschen zu den Juden zurückkehrte.
„Jüdisches Leben war, ist und bleibt Existenz auf Widerruf“, so Wolffsohn unter Verweis auf die „permanente Lebensgefahr – ‚die‘ Deutschen kennen sie nicht, ‚die‘ Juden seit 3000 Jahren.“ Das lässt Geschichte gänzlich unterschiedlich erfahren: „‘Die‘ Deutschen haben aus der Geschichte gelernt, Gewalt sei als Mittel der Politik nicht legitim. ‚Die‘ Juden haben aus derselben Geschichte – auf der anderen Seite stehend – gelernt: Ohne Gewalt, verstanden als Wehr- oder ggf. Angriffsfähigkeit, droht Untergang.”
Ein kluges und in vielen Punkten gegen den Strich bürstendes Buch – nicht nur dem applaudierenden Berlinale-Publikum zur Lekture empfohlen.
Michael Wolffsohn: Nie wieder? Schon wieder! Alter und neuer Antisemitismus. Verlag Herder, Freiburg, gebunden, 96 Seiten, 12 EUR
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